Wissenschaftliche Grundperspektive
Begründeter Geographieunterricht ist Ort des Fragens. Und jede Frage ruft zu einem ursprünglichen und einsichtigen Denken auf, um das Fragwürdige zu verstehen. Wenn wir verstehen, wie wir in der Welt sind, wie wir Anderem und Anderen begegnen, und wenn dieses Verständnis dem Gespräch nicht vorgeordnet ist, sondern dem Dialog selbst entspringt, ist geographische Bildung produktiv, d.h. vorwärts drängend und weiterführend, statt bloß reproduktiv und konstatierend. Das Lehr- bzw. Unterrichtsgespräch verstehen wir im anspruchsvollen Sinne als Kunst des pädagogischen Gesprächs, als (sokratische) Urform einer Gesprächserfahrung, in der die Lehrperson ihre SchülerInnen im Gespräch lehrt und in der das verständige Gespräch selbst verwandelnde Kraft hat. Geographische Bildung über die lebendige Begegnung mit dem geographischen Gegenstand, also dialogisch, zu denken, bedeutet vor allem, geographisches Lehren und Lernen von den je eigenen geographischen Erfahrungs- und Verstehenshorizonten aus zu entwerfen. In der fall- und fragebezogenen Auseinandersetzung mit dem fachlichen Gegenstand, in die auch (digitale) (Geo-)Medien, geographiespezifische sowie fachübergreifende Methoden sinnvoll einbezogen werden, werden eigene Einsichten gewonnen. In einem geographischen Verständigungs- und Vermittlungsprozess dieser Art sind das Etwas-Verstehen und das Sich-Verstehen miteinander verschränkt. Im Zuge der Vertiefung in geographische Fragen gehen die Bildung der Geographie und Bildung des Selbst Hand in Hand. Geographische Bildung meint die Übung der geistigen Selbstständigkeit, meint ein zunehmend tiefgreifendes Verstehen der Lebenswelt als ein sich immer wieder neu formierender Sinnbezug und Verstehenshorizont im Fach Geographie.
Die mikrologische und fragebezogene Reflexion geographischer Gegenstände ist eingebettet in eine bildungsphilosophische (auch kultur- und sozialphilosophische) Grundlegung geographischen Lernens im Sinne eines zeitgemäßen Theorieangebotes von Pädagogischer Anthropologie, Phänomenologie, Hermeneutik und Kritischer Theorie. Zentral ist die Kultivierung einer Antwort-Beziehung zwischen Lehrerperson, SchülerInnen und Gegenstand als eine sich affektiv und sprachlich vollziehende Suchbewegung im Kontext eines multi-modalen Zugangs zur Räumlichkeit. Mit Hilfe theoretischer Referenzrahmen zu "Raum" und "Räumlichkeit" gewinnt die dialogische Vermittlung fachgeographische Orientierung. Die Fachwissenschaft Geographie versteht sich seit Beginn der 70er Jahre als "Raum"-Wissenschaft. Aktuell zeichnet sich die Geographie durch vielfältige, sich überlagernde und z.T. disparate Theorien visueller und kultureller Räumlichkeiten aus. In der Didaktik der Geographie greifen wir auf diese ganz unterschiedlichen fachlichen Zugangsweisen zum Räumlichen zu. Wir befassen uns mit verschiedenen Raumkonzepten und Raumtheorien für die Entdeckung, Entwicklung und Entfaltung geographischer Phänomene und Fragen. Dieser mehrdimensionale fachtheoretische Hintergrund ermöglicht es, differenzierte subjekttheoretische, gesellschafts- und kulturtheoretische sowie zeitdiagnostische Ordnungsmuster für den Geographieunterricht zu gewinnen. Diese bieten einen Orientierungsrahmen, um technische, praktische und emanzipatorische Vermittlungsprozesse als Erziehung zur Mündigkeit anzustoßen, zu gestalten und zu reflektieren. Wir sind auf die doppelte Fachkonzeption der Geographie als Naturwissenschaft und sozialtheoretisch und kulturwissenschaftlich informierte Humangeographie ausgerichtet. Die Integration des Doppelcharakters der Geographie kann auf der Grundlage geisteswissenschaftlicher Grundperspektiven gelingen: Durch die phänomenologisch-hermeneutische und pädagogisch-anthropologische wissenschaftstheoretische Grundperspektive wird es möglich, die sich überlagernden Codierungen von Welt in der Spätmoderne in ihrer Kohärenz zu begreifen. Spannungen, Brüchigkeiten und Widersprüche der Mehrfachcodierungen lassen sich orten und ins (didaktische) Spiel bringen.
Im Prozess des "Forschenden Lernens" findet Lernen als Bildung und Umbildung statt. Im selben Zuge bildet sich eine kritisch-geographische und lehrende Haltung aus. Forschendes Lernen und Lehren sind aufs Engste miteinander verknüpft. Mit zunehmender Erfahrung kann es angehenden Lehrerinnen und Lehrern immer besser gelingen, sich selbst als Lehrerperson in der doppelten Bezogenheit auf die Sache und die SchülerInnen für das Unerwartete, Unkalkulierbare, Unverfügbare im geographischen Bildungsprozess zu öffnen und diese Offenheit für das Unplanbare und Unvorhersehbare im Unterricht zu kultivieren. Auf diese Weise lässt sich das (Unterrichts-)Fach Geographie in die Zukunft hinein offen halten. Im Kontext des aktuellen Unterrichtsganges wird das prinzipiell unabgeschlossene-prozesshafte Bildungsgeschehen aber nicht nur angeregt oder angestoßen, sondern auch immer wieder geschlossen. Denn jede mikrologische Untersuchung führt zu ganz konkreten, lebensweltlich relevanten und darstellbaren Ergebnissen, Einsichten und Fähigkeiten. Im Geographieunterricht werden also in enger Bezogenheit zur fachgeschichtlichen Entwicklung der Geographie, im Vertrauen auf das eigene aus der Erfahrung hervorgehende und reflektierte Gespür für den Takt der Vermittlung sowie den schöpferischen und fruchtbaren Moment im Unterrichtsprozess die am ganz konkreten Fall zur Sprache gebrachten geographischen Fragen sowie die Antworten gefunden. In diesem humanistischen Sinne meint Lehren ein Tun, in dem eine künstlerische (Lehrkunst) und einer kritisch-reflexive Praxis miteinander vermittelt sind. Wir verstehen die Didaktik der Geographie daher als eine wissenschaftliche Disziplin, in der es um Fragen der Praxis und theoretischen Reflexion eines verantwortungsvollen ästhetisch und ethisch verankerten und begrifflich differenzierten Lehrens und Lernens der Geographie geht. Bildung meint einen qualitativ-empirisch rekonstruierbaren Prozess der Transformation als Veränderung von Selbst- und Weltverhältnissen. Dieses erfahrungsbezogene Lehr-, Bildungs- bzw. Lernverständnis zielt auf das strukturtheoretische Verständnis von Professionalität und Professionalisierung der Lehrkräftebildung ab.
Liberale Demokratien strukturieren die politische Macht so, dass die Individuen erstens gemeinsam die Träger der politischen Macht sind und dass sie zweitens einen Spielraum als Individuen behalten (Tugendhat). Die Liberale Demokratie versteht sich als Lerngemeinschaft, die u.a. in Schule institutionalisiert ist. Hier findet das Lernen nicht zufällig oder beiläufig statt, es wird vielmehr fachbezogen situativ arrangiert. Fachdidaktische Theoriebildung zum Spannungsfeld von Demokratiebildung und -erziehung basiert auf einem erfahrungsbezogen-philosophischen, konkret einem anthropologisch-phänomenologisch-hermeneutischen Begriff von Unterricht als Einheit der pädagogischen Differenz von Lehren und Lernen mit dem Ziel der (Aus-)Bildung von Autonomie, Emanzipation, Mündigkeit. Lernen wird als ein performatives Erinnern, bzw. ein situatives Bewusstwerden von geistigem, praktischem und sozialem Wissen verstanden, das der Schüler, die Schülerin latent, d.h. unbewusst bereits hat. Schon Plato begriff das Lernen als ein situatives Erinnern. Dies gilt auch heute noch, wenn auch mit anderer Begründung. Im Unterricht findet der Lernende die Erkenntnisse in sog. „negativen Erfahrungsprozessen“ selbstständig, sie figurieren sich durch eigenes Denken (Sinnfindung). Das Lehren ist dazu da, das Lernen der SchülerInnen bestmöglich zu unterstützen. Lehren wird im anthropologisch-phänomenologisch-hermeneutischen Sinne als ein unerlässliches Zeigen begriffen, das auf das Lernen hingeordnet ist (Sinnstiftung). Allerdings ist das Verhältnis von Lernen und Lehren nicht direktiv, nicht bruchlos zu verstehen; zwischen Lehren und Lernen öffnet sich ein Zwischenraum, der fachdidaktisch immer wieder gestaltet werden muss (Lehrkunst). In diesem Zwischenraum werden die Sinnfindung der SchülerInnen und die Sinngebung der Lehrperson durch das Lehren unter permanenter Beibehaltung der Öffnung aufeinander zugeführt (Artikulation). Unterricht ist als dialogischer Prozess zu verstehen, der sich zwischen SchülerInnen, Lehrperson und Unterrichtsgegenstand (didaktisches Dreieck) entfaltet und zu fachbezogenen Fragen führt. Diese den weiteren Unterrichtsprozess strukturierenden Fragen ergeben sich im Zuge der Inszenierung des Unterrichtsgegenstandes durch die Lehrperson im Einstieg (Exemplarität) und ihre zentralen didaktischen Entscheidungen im Zuge der Dramaturgie des induktiven bzw. genetischen und performativ zu verstehenden Unterrichtsganges. Anhand der Erfahrungen, die im Laufe des praktischen Unterrichtens gewonnen wurden und werden, lassen sich normative Schlussfolgerungen für den qualitativ hochwertigen Fachunterricht ziehen, die an der unterrichtspraktischen Erfahrung kontinuierlich überprüft und modifiziert werden müssen (Fachdidaktik aus der Praxis für die Praxis). Über die Formulierung normativer Prinzipien wird Fachdidaktik lehr- und lernbar sowie qualitativ empirisch überprüfbar. Für das Schulfach Geographie lassen sich drei zentrale normative fachdidaktische Prinzipien beschreiben:
- Sechs fachdidaktische Makromethoden orientieren die Phasierung des Unterrichtsganges: Fallanalyse, Problemstudie, Raumbezogene Konfliktanalyse, Entscheidungsdenken, Arbeit vor Ort, Projekt/Bürgeraktion.
- Vier Raumkonzepte werden in jeder Unterrichtsreihe miteinander verschränkt: Raum als Container, Raum als System von Lagebeziehungen, Raum als Anschauung, Raum als politische, technische, soziale (De-)Konstruktion.
- Das Integrationsfach Geographie denkt physische Geographie und Humangeographie, d.h. naturwissenschaftliches und sozial- bzw. geisteswissenschaftliches Wissen, miteinander, so dass alle Fragen der Nachhaltigkeit im Hinblick auf unseren Umgang mit der Natur und ein verantwortungsvolles gemeinsames Zusammenleben und Wirtschaften perspektiviert und auf diese Weise ganzheitlich angegangen werden können.